Larven - Hilfe oder Hindernis bei der Eroberung neuer Lebensräume durch dekapode Krebse?
Die Mehrzahl der Dekapoda lebt im Meer und durchläuft dort einen komplexen (biphasischen) Lebenszyklus mit einer benthischen Juvenil-Adult- und einer pelagischen Larvalphase. Alle obligaten Süßwasserbewohner weisen dagegen eine direkte Entwicklung ohne Larvenstadien auf. Einige Taxa haben sowohl marine als auch limnische und terrestrische Vertreter. Die limnischen unter ihnen zeigen meist eine Verkürzung der Larvalphase, reduzierte Nachkommenzahl und benthisches Larven-Verhalten. Solche intermediären Lebenszyklen bieten Anhaltspunkte für eine Rekonstruktion der notwendigen evolutiven Anpassungen sowie für eine Einschätzung der Rolle pelagischer Larvenstadien bei der Eroberung limnischer und terrestrischer Lebensräume. Planktische Larven tragen generell zu einer Ausweitung der geographischen Verbreitung bei, sie ermöglichen den genetischen Austausch zwischen räumlich getrennten benthischen Populationen, erhöhen durch allochthone Besiedlung deren Stabilität und wirken allopatrischer Speziation entgegen. Eine Verbreitung durch Larvenstadien fördert somit prinzipiell die Eroberung neuer Lebensräume. Da Larven aber die physiologisch empfindlichsten Stadien im Lebenszyklus darstellen, sind sie gleichzeitig das größte Hindernis bei der Eroberung neuartiger (also ökologisch andersartiger) Lebensräume. Osmotischer Stress in Süßwasser, unzureichende Verfügbarkeit planktischer Nahrung (v.a. in lotischen Gewässern) sowie die Gefahr der Austrocknung in terrestrischen Habitaten selektieren gegen biphasische Lebenszyklen. Diese Selektionsdrücke erklären, warum viele Süßwasser-Dekapoden ihre Larvalphase verkürzt oder ganz eliminiert haben. Weitere Anpassungsstrategien beruhen auf Adaptationen im Verhalten (“Export-Strategien” auf der Basis larvaler und/oder adulter Wanderungen), in der Fortpflanzungsbiologie (erhöhte Energieinvestition pro Nachkomme in die Eiproduktion) sowie in der Physiologie der Larven (ontogenetisch frühe Expression osmoregulatorischer Funktionen, lecithotrophe Entwicklung). Adaptative Verhaltensmuster wurden offenbar bei direkter Besiedlung nicht-mariner (aber meist meeresnaher) Habitate entwickelt. Die Evolution physiologischer Anpassungen an limnische Inlandsgewässer oder meeresferne terrestrische Habitate benötigt dagegen längere Zeit und mehr evolutive Zwischenstufen, wie sie nur auf indirekten Besiedlungswegen, z.B. über brackige Küstengewässer, Lagunen, Mangroven, Salzwiesen usw., entstehen können. Die Beantwortung der Frage, ob planktische Larven bei der Eroberung neuer Lebensräume hilfreich oder eher hinderlich sind, hängt demnach v.a. von ökologischen Parametern (Grad der Ähnlichkeit zwischen ursprünglichen und neu besiedelten Habitaten), von den betrachteten Zeiträumen sowie von der Anpassungsfähigkeit einer Gruppe ab. In ökologischen Zeitskalen limitieren physiologisch empfindliche Larven eine Ausbreitung in neuartige Lebensräume. Kenntnisse der larvalen Ökophysiologie lassen deshalb bei eingeschleppten oder einwandernden Arten eine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit zu, dass “Invasoren” sich ausbreiten und dauerhaft etablieren können. Desweiteren sind Kenntnisse der Reproduktions- und Larvalbiologie unabdingbar für Voraussagen möglicher Effekte zu erwartender Umweltveränderungen, z.B. infolge Klimawandel, Verschmutzung oder Habitatverlust. Über evolutive Zeiträume ist die Larvalphase zwar ebenfalls eine unter besonderem Selektionsdruck stehende Schwachstelle im Lebenszyklus, aber sie bildet keine prinzipiell unüberwindbare Barriere für die Eroberung neuartiger Lebensräume, wenn eine Verwandtschaftsgruppe sich in als anpassungsfähig erweist und wenn indirekte Einwanderungsrouten sowie genügend Zeit zur Verfügung stehen.